von
T. Austin-Sparks
Zuerst veröffentlicht und bearbeitet in den Zeitschriften "Toward the Mark" Mai-Jun 1978, Vol. 7-3. Originaltitel: "The Importance and Value of God-given Vision". (Übersetzt von Manfred Haller)
«Komm hier herauf; ich will dir … zeigen...» (Offenbarung 21,9).
In Krisenzeiten der Kirchengeschichte hat es stets einen Faktor gegeben, der entscheidend wurde; das heißt, das Vorhandensein oder die Abwesenheit einer von Gott geschenkten Sicht. Wieder und wieder war eine solche Sicht durch ihre Abwesenheit die Ursache für Unglück und Desaster; oder, wenn sie vorhanden war, der Wendepunkt zum Guten oder zum Bösen, je nach Standpunkt, den man diesbezüglich einnahm. Gott hat oft entweder auf eine tatsächliche oder drohende Tragödie durch die Präsentation einer neuen Sicht reagiert: neu, sofern es sein Volk betraf.
Für die Notwendigkeit und Bedeutung einer solchen Sicht gibt es mehrere Gesichtspunkte. In erster Linie einmal diesen:
Sie ist konkret bei Gott
Eine solche Sicht ist etwas, das bei Gott in haarscharfer Definition von Anfang an in seinen ewigen Ratschlüssen existierte. Es handelt sich dabei um nichts Abstraktes oder Nebulöses, etwas, das die Leute «visionär» oder «mystisch» nennen. Im Sinn und in der Absicht Gottes ist es etwas Entschiedenes, Klares und Reales. Gott geschenkte Sicht ist nicht etwas, das bestimmten Ereignissen folgt, etwa ein nachträglicher Gedanke, weil die Dinge unerwartet auftraten; eine Art Alternative zu dem, was Gott ursprünglich wollte. Es ist kein Ersatz für Gottes ursprünglichen Plan. Es ist keine praktische Notlösung, weil eine unvorhergesehene Situation eingetreten ist. Eine Gott geschenkte Sicht hat ihre Wurzeln außerhalb von Zeit und Umständen, Möglichkeiten, Zufällen oder Notsituationen. Alle diese Dinge waren bereits in der Vision Gottes einkalkuliert, und - so zu sagen - von ihr verschluckt worden.
Zu einer solchen Sicht gebracht zu werden bedeutet, auf den Boden des Vertrauens und der Gewissheit gebracht zu werden, wenn der Sand einzusinken droht und alles nachgibt. Das ist gewiss von keiner geringen Bedeutung und von nicht geringem Wert.
Sie ist umfassend
Dinge sind, seien sie gut oder böse, kein Ziel an sich. Entweder sind sie in der Vision verkörpert oder von ihr überwältigt. Unter der souveränen Herrschaft des Geistes Gottes müssen alle Dinge dem Zweck dienen, der die Substanz von Gottes Vision darstellt. Genau das bedeuten jene Worte, mit denen wir so vertraut sind und die so oft gebraucht werden, nämlich dass uns alle Dinge zum Guten zusammen wirken sollen (Röm. 8,28). So selten betrachten wir sie in ihrem Umfeld und gewinnen nie ihre volle Bedeutung. Wir sagen einfach: «Alle Dinge wirken zum Guten zusammen...», und dabei bleibt es. Der Kontext hat aber zwei Aspekte. Leben, die völlig unter der Herrschaft des Heiligen Geistes sind, stehen im Blickpunkt, und «sein Vorsatz» herrscht vor. Solange nicht diese beiden Dinge mit ausgesagt werden, wirken nicht alle Dinge zum Guten zusammen. Unter der Voraussetzung, dass wir «nach seinem Vorsatz berufen» sind und dass wir als Antwort darauf Liebende Gottes sind, dann bilden alle Dinge (in der Tat) die Sphäre seiner Souveränität, die alle Dinge zum Guten zusammen wirken lässt. Der Vorsatz bestimmt alles, und der Vorsatz ist die Substanz der gottgeschenkten Vision. Wir benötigen deshalb eine Vision von Gottes Vorsatz in größerer Fülle, nicht nur teilweise. Der Vorsatz umfasst alle Teile. Keine Phase und kein Teil ist ein Ziel in sich selbst. Ein einzelnes Rad einer Maschine hat für sich genommen keine angemessene Bedeutung. Es fehlt ein echtes Motiv, wenn alle andern Teile nicht in Betracht gezogen werden. Wir dürfen uns nicht so sehr von einer Phase oder von einem Teil besetzen und einnehmen lassen. Lassen wir das zu, dann wird das Ganze an diese Phase gebunden, sofern es uns betrifft, und wir sehen nichts mehr. Das wird uns völlig aus unserem Auftrag entfernen, wenn irgend eine Phase Gottes Vorsatz gedient hat, Gott aber dann weitergeht. Ein ausreichendes Motiv verlangt eine ausreichende Sicht, und wir müssen viel mehr sehen, als was unmittelbar vor unseren Augen ist. Dann, noch mehr:
Sie erweitert sich ständig
Es ist sehr wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass eine gottgeschenkte Sicht nie zu einem bestimmten Zeitpunkt vollständig vermittelt wird. Sie ist etwas, das allmählich, durch eine Überfülle biblischer Belegstellen und Ereignisse, Gestalt annimmt. Eine solche Sicht ist ständiger Erweiterung unterworfen. Sie wird stets durch neue Phasen entwickelt und erfüllt. Das ist ein Gesetz in der Natur, und die Natur verkörpert geistliche Prinzipien.
Die Mittel, die Gott anwendet zu einem bestimmten Zeitpunkt anwendet, mögen - und mit Sicherheit werden sie es - vergehen oder sich ändern. In der souveränen Ordnung Gottes kann eine bestimmte Phase, Methode oder ein bestimmtes Mittel auslaufen, obwohl sie bisher mächtig gebraucht und gesegnet worden sind. Das bedeutet aber nicht eine Änderung der Vision (es sei denn unsere, und nicht diejenige Gottes), sondern eine Erweiterung der Vision. Bei Gott ist all das, was er benutzt und segnet, wie wunderbar das auch sein mag, bloß relativ und nicht endgültig und letztlich. Darum sollten wir nicht an dem hängen, was gewesen ist, und das als gültige Form für alle Zeiten betrachten. So oft war das eine äußerst verheerende Einstellung, und sie hatte zum Ergebnis, dass Gott mit seinem vollen Vorsatz in einer anderen Richtung und mit andern Mitteln vorgehen und diese festgefahrene Sache zurücklassen musste, so dass sie dann einem viel geringeren Zweck diente, als er es für sie vorgesehen hatte. Schließlich ist das Ganze geistlich gestorben, obwohl sie äußerlich vielleicht durch menschliche Anstrengung und Organisation weitergeführt wurde. Sie lebt dann einfach noch von ihrer Vergangen und ihrer Tradition. Weiter:
Sie bewegt sich immer aufwärts
Wenn sie zuerst wahrgenommen wird, scheint sie ein solch unmittelbare, zeitliche und irdische Bedeutung zu haben. Die Verwicklungen irgend einer Bewegung Gottes werden am Anfang nicht immer erkannt, doch wenn wir mit ihm voran gehen, werden wir feststellen, dass vieles, was hier getan wird und an die Zeit gebunden ist, zurückgelassen wird und werden muss. Das Geistliche und Himmlische drängt nach einem größeren Platz und wird absolut entscheidend für das Werkzeug und jene, die es betrifft. Es ist spontan, und es geschieht einfach. Wir wachen auf und stellen fest, dass wir in einen neuen Bereich, in eine neue Position gelangt sind, und keine noch so große Menge an irdischen Ressourcen kann die Bedürfnisse decken. Es ist nicht nur etwas mehr nötig, sondern etwas Anderes. Es handelt sich um eine Krisis, und man kommt nur sicher hindurch, wenn eine Sicht von Gottes höchstem Ziel vorliegt. Dazu ist eine geistliche Gesinnung nötig, die Fähigkeit, himmlische Dinge zu erfassen. Unsere Welt mag in Stücke zerfallen, doch es ist das volle, letzte Ergebnis, worauf es ankommt. Es ist so unendlich schade, dass so viele sich am alten Rahmen oder an einer teilweisen Sicht festklammern. Gott präsentiert sein himmlisches Muster in größerer Fülle und verlangt Anpassungen. Er tut das mit weiser Voraussicht, wohl wissen, dass ein Tag bevor steht, an dem einzig diese Sicht Sicherheit garantiert. Doch weil es so revolutionär erscheint, so unähnlich dem, was Gott in der Vergangenheit gesegnet hat, wird es verworfen und beiseite geschoben. Dann kommt der vorher gesehene Tag, und man muss zu allen möglichen Notbehelfen Zuflucht nehmen, um irgendwelche Werte für Gott zu erhalten.
Abraham hatte eine Vision von «der Stadt, welche Grundlagen hat», und er hielt Ausschau nach ihr, doch hat er sich auf Erden nie gefunden. Schließlich fand er sie im Himmel, doch bloß als Höhepunkt eines Wandels, der stets aufwärts führte. Hesekiel war ein anderer Mann mit einer Vision. In seinen «Gesichten Gottes» sah er, wie die Herrlichkeit sich von der irdischen Szene weghob, und sich aufwärts und wegwandte, die schließlich ihren Höhepunkt in einem geistlichen Haus und einem Strom erlangte, die ihr Gegenbild in der abschließenden Vision fand, die Johannes geschenkt wurde. Sie war himmlisch, geistlich, universell. Was für ein bedeutsamer Satz wird doch über das Haus ausgesprochen, das Hesekiel sah - «und die Seitenwände wurden breiter in dem Maß, wie sie sich höher und höher um das Haus herumzogen» (Hesekiel 41,7). Eine gottgeschenkte Vision ist stets himmlisch und bewegt sich stets weg vom bloß Zeitlichen und Irdischen. Dies zu verstehen bedeutet, dass man sich auf Wegen lebendiger Fruchtbarkeit befindet.
Gott arbeitet nie auf eine Reduktion oder Begrenzung hin, auch wenn es zuweilen den Anschein hat, als tue er genau das. Wenn wir imstande sind, zu sehen, wie er sieht, merken wir, dass das, was wie Beschneidung und Reduktion aussieht, seine Art ist, zu größerer geistlicher und himmlischer Erweiterung zu führen. Es war der «Gott der Herrlichkeit», der dem Moses geoffenbart wurde (Hebr. 8,5). «… oberhalb der Ausdehnung» war etwas wie «ein Thron… und auf dem Thron saß ein Mensch», den Hesekiel sah (Hesekiel 1,26). Das sind nicht nur souveräne Faktoren der Herrschaft, sondern himmlische Vorstellungen in der Natur der Dinge.
Diese beiden Dinge gehen zusammen. Gott riskiert in seiner Souveränität, dass die Dinge scheitern, oder erlässt ein Scheitern bis zu dem Maße zu, dass er es als Kulisse oder als Rahmen benutzen kann, um seinen volleren Vorsatz zu realisieren. Es ist nicht so, dass das, was voraus ging, falsch war, sondern bloß, dass er jetzt etwas mehr wünscht. Wir danken Gott, dass er Paulus je von seinem Dienst des Reiseevangelisten weggenommen und ihn gefangen gesetzt hat, denn es war dort, wo ihm die volle und glorreiche Offenbarung von den «himmlischen Regionen» und dem «Ewigen» geschenkt wurde. Dies schien alles Irdische und Zeitliche zu verdunkeln. Das war es wert. Was wie eine Tragödie aussah, war schließlich gar keine. Satan mag eine Menge mit Paulus Gefangennahme zu tun haben, und ebenso mit der Verbannung von Johannes auf Patmos, aber durch diese Schwierigkeiten wurde der Gemeinde eine ganze Menge himmlischer Werte gewonnen. Der Heilige Geist ist der Treuhänder des vollen Vorsatzes Gottes, und unter seiner Herrschaft werden sich die Gemeinde und der individuelle Gläubige stets vorwärts und aufwärts bewegen. Noch einmal:
Sie ist der Grund unserer Ausbildung
Wenn Gott Sicht schenkt, dann wird dies zum Anlass und zur Grundlage unserer Prüfungen, unserer Erziehung und unserer Züchtigung. Das ist für Gott unendlich viel wichtiger als eine leichte Erfüllung und Verwirklichung, als jene Art von Erleichterung, die durch Gottes souveränes Eingreifen möglich wird. Seht die Propheten an! Sie waren Männer der geistlichen Sicht. Sie standen in der Bresche zwischen drohendem Desaster und dem Überleben des Volkes Gottes. Doch welche Züchtigungen erduldeten sie wegen ihrer Sicht! Es war ihre Sicht, die all die inneren und äußeren Leiden über sie brachte. Blickt nochmals auf Habakkuk. Wie er zu Gott schrie wegen der Situation, und wie er in Bezug auf die Sicht Stellung bezog. Es sind Glaube und Geduld, die als Tugenden vervollkommnet werden müssen, und so ging ihm auf, dass «der Gerechte durch Glauben leben» wird (Habakkuk 2,4). Genauso bezeichnete sich Johannes, der Mann der Visionen von Patmos, als den Bruder «Ausharren Jesu» (Offenbarung 1,9).
So können wir feststellen, dass, auch wenn die Dinge eine neue und andere Form annehmen mögen, der Vorsatz Gottes sich nicht geändert hat. Vielleicht wird uns Seine Sicht mit neuen und fortgeschritteneren Aspekten vorgeführt, aber es ist immer noch das, was sich Gott von Anfang an vorgenommen hat. Können wir uns anpassen? Können wir die Dinge aufgeben, die zurückliegen? Können wir, ohne zu fragen, was in der Vergangenheit richtig oder falsch war, weiter schreiten und heranwachsen, während wir uns auf das Ziel Gottes hinbewegen? Schließlich:
Sie macht aus uns Menschen des Gebets
Das ist allzu offensichtlich, wenn wir an die Menschen der Bibel denken. Es war geistliche Sicht, die sie von Trivialen und Geringfügigen wegholte. Sicht war nötig, um ihr Gebet auf die Hauptlinien zu bringen und es zu einer Angelegenheit innerer Geburtswehen zu machen. Was für eine Grenze und Reichweite hatten doch jene Propheten im Gebet! Und doch, welch immense Dinge überstürzten sich geradezu! Es ist nicht unsere Sicht von Gott, sondern Seine Sicht in uns, die ihre Dynamik entfaltet, und die über die bleibenden Werte entscheiden wird.
Ich kann nicht schließen, ohne darauf hinzuweisen, dass, was mit einem Minimum an Verlust hätte bewerkstelligt werden können, oft gezwungenermaßen ausgeführt werden musste, mit Gewinnen, die weniger darstellten als was sie hätten sein können. Das ist so, weil wir eben nicht von Zeit zu Zeit zurückstehen und mit innerer Distanz auf Gott warten, so dass er unsere Sicht anpassen und erweitern kann. Manch ein Werk, das dem Herrn mächtig gedient hat und ein großes, geistliches Zeugnis gewesen ist, hat viel von seiner Herrlichkeit und seinem Einfluss verloren, weil es zu einer organisierten Routine wurde, die nicht für weiteres Licht von Gott gesorgt hat, das durch Zeiten des Zurücktretens und des Wartens auf ihn hätte gewonnen werden können. Vielleicht würde der Herr mehr prophetische Sicht senden, die zu volleren geistlichen Werten führen könnte, wenn wir nicht zu beschäftigt wären, um sie zu empfangen. Ohne erneuerte Sicht kann leicht ein Abnehmen der geistlichen Kraft eintreten.
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